Großschönau 2030 – Szenariogeschichte

Die Zukunft gemeinsam weben!

AUTOR: Prof. Dr. Peter Dehne (Neubrandenburger Institut für
Kooperative Regionalplanung)

„Einen Stadtschreiber lädt ein, wer seinen Ruhm mehren möchte und selbstbewusst genug ist, anzunehmen, dass der Literat sich dort nicht langweilen wird“, hatte Lotte neulich in einer alten Ausgabe der ZEIT gelesen.

Lotte Liebe hängt ihren Gedanken nach. Vor ca. 1 Stunde war sie am Flughafen Dresden in den schnellen Zubringerzug nach Zittau gestiegen.

Nun, das Textildorf Großschönau hat sie zwar nicht zur Stadtschreiberin gekürt sondern zur Dorfweberin. Aber so ein Dorf mit 6.000 Einwohner im äußersten Zipfel Deutschlands gelegen muss wirklich selbstbewusst sein, um alle fünf Jahre eine junge Textilgestalterin oder einen jungen Textilgestalter für ein Jahr als Dorfweberin oder Dorfweber zu berufen.

Ganz leicht wird sie in ihren Sitz gedrückt. Langsam drosselt der Zug die rasante Geschwindigkeit  herunter. Gleich wird sie in Zittau nach Großschönau umsteigen.

Was willst Du da, hatten ihre Freunde in Amsterdam gefragt.

Ich will Altes lernen und Kreativität geben, hatte sie gesagt.

Großschönau ist in der jungen internationalen Textilszene bekannt. Hier ist es in den letzten Jahren gelungen, Brücken zu schlagen zwischen alter Webkunst, kreativer Textilgestaltung und moderner Textiltechnologie. Nur hier gibt es noch die alten Damast- und Frottierhandwebstühle. Und nur hier gibt es noch Menschen, die damit umgehen können und ihr zeigen, wie sie die alten Techniken mit ihren kreativen Ideen verbinden kann.Das ist ihre spannende Aufgabe in den nächsten 12 Monaten. Aber dennoch ist es ein kleines Dorf im Naturpark Zittauer Gebirge, weitab von allem.

Merklich langsamer verlässt der Zug Zittau und schwenkt nach Westen auf die tiefstehende Abendsonne zu, links von ihr das Zittauer Gebirge.

Fast hätte sie den Ausstieg in Großschönau verpasst.

Lotte ist nicht die einzige, die aussteigt. An ihr vorbei drängeln sich Jugendliche mit Outdoorklamotten und Rücksäcken und verschwinden im Bahnhofsgebäude.

Lotte ist verwundert.

Sie war auf einem tristen Bahnhof mit vermoosten Bahnsteigen, bleichen Fensterscheiben und bröckelnde Putzfassaden vorbereitet. Nun steht sie auf sorgfältig verlegtem Mosaikpflaster vor einem langgestreckten zweigeschossigen Gebäude in frischen Farben, das sie unter einem transparenten Vordach in eine offene Eingangshalle einlädt.

„Willkommen in der Oberlausitz.“

Lotte dreht sich um. Eine Frau mittleren Alters kommt mit offenen Armen auf sie zu.

Im Hintergrund, auf der anderen Seite der Gleise, erkennt Lotte Einfamilienhäuser, dahinter moderne mehrgeschossigen Wohngebäuden, an der Seite drei E-Ladsäulen und geschätzt 10 grüne Elektroautos mit der Aufschrift „Schöner Wohnen im Textildorf“.

Ein Zug fährt ein. Nach Ebersbach steht auf der digitalen Anzeige.

„Ich bin Hannah. Wir können doch Du sagen. Ich zeig Ihnen, eh Dir mal kurz den Bahnhof. Das war unser erstes großes Projekt nach den Szenariowerkstätten und Bürgergesprächen“

Sie hakt sich bei Lotte unter und spaziert mit ihr in die Bahnhofshalle. Trotz der späten Tageszeit ist Leben und Bewegung in der Halle: vier ältere Herren trinken ihren Kaffee, eine Familie steht am Tresen des Naturparks Zittauer Gebirge, über einem anderen Counter steht Mobilitätszentrale, Jugendliche gehen lachend und diskutierend auf eine Tür zu, durch die gerade die Lottes rucksacktragenden Mitfahrer verschwinden. An den Wänden hängen filigrane Musterzeichnungen von Pflanzen, Schmetterlingen und Vögeln, Bilder von mächtigen alten Webstühlen, Plakate vom Deutschen Damast- & Frottiermuseum und der Damastschatzkammer. Dazwischen, fast wie ein Fremdkörper eine abstrakte Zeichnung mit kräftigen dunklen Strichen.

„Wie ein Wald“, denkt Lotte. „Oder: Wie ein Gewebe …“

2032 – Retrospektive zum 100sten Geburtstag von Gerhard Richter, steht darüber.

„Richter lebte nach dem Krieg in Waltersdorf. In zwei Jahren wird es bei uns eine große Richter-Ausstellung geben, “ erläutert Hannah.

„Aber ich wollte dir vom Bahnhof erzählen. Weißt Du, wir hatten 2016 dieses JugendBarCamp. Die Jugendlichen wollten Räume für sich. „wir brauchen einen Ort, an dem wir sein wollen und auch sein können, hieß es auf einem Plakat. Der alte Jugendclub in der Webschule war ein paar Jahre vorher gescheitert. Zuerst hatte ihnen die Gemeinde etwas gegenüber der Webschule besorgt und einen Jugendsozialarbeiter eingestellt. Das Ganze nahm richtig Fahrt auf. Heute ist der Jugendclub im hinteren Teil des Bahnhofsgebäudes. Dort finden regelmäßig kleine Konzerte statt. Einmal im Monat ist Kino. Sie bewirtschaften das Café Tante Käthe. Ihnen fiel kein besserer Name ein für das Generationen-Café. Daneben ist die Repair-Werkstatt und hinter dem Bahnhof betreiben sie Urban Gardening. Naja, es sind coole Schrebergärten.“

„Und wo sind die Rucksackleute hin?“

„Im Obergeschoss ist ein Hostel sowie zwei kleine Wohnungen für Auszubildende, Praktikanten oder Jugendliche aus anderen Ländern. Zurzeit wohnen dort zwei Mädchen aus Costa Rica, die beim Naturpark arbeiten, und ein Junge aus Tschechien, der in einer Tischlerei lernt.“

„Hmmm …“

„Eine Umgebindehaus-WG haben wir auch.“

„Heee?“

„Es ist ein alter Umgebindehaus, das Azubis des örtlichen Handwerks für sich ausgebaut und restauriert haben, quasi als Lernobjekt[i]. Gleichzeitig ist es Anschauungsobjekt und „Bauhütte“ für die Bessitzer von Umgebindehäusern. Du musst wissen, wir haben über 600 davon. Und viele werden von Berliner, Dresdner oder Prager gekauft, die sich hier niederlassen.“

Mittlerweile haben die beiden Frauen den Bahnhof auf der anderen Seite wieder verlassen und blicken die Bahnhofstraße hinunter. Einige Gebäude sind eingerüstet und werden restauriert.

„Dahinten ist unser neues Wohnkonzept „Gemeinsam alt werden in Großschönau“. Neben barrierefreie Wohnungen befinden sich eine Senioren-WG, eine Pflegestation und ein kleines rollsstuhlgerechtes Hotel in dem Neubau. Aber lass uns überlegen, wie wir zur Webschule kommen.“

Vor ihnen verlässt ein Bus den Bahnhofsvorplatz. Vorsichtig umkurvt er drei knallrote Mini-Busse. Dahinter steht ein Kleinwagen an einer Ladestation, rechts davon E-Mountainbikes und zwei Lastenfahrräder.“

„SCHÖNI und WALTER unsere selbstfahrenden Busse sind zwar super. Sie fahren auf einer festen Strecke vom Bahnhof zur Rübezahlbaude in Waltersdorf. Aber bis zur Webschule ist es nicht weit. Wir können linksrum zu Fuß gehen. Ach was, lass uns ein E-Lastentandem nehmen, für dein Gepäck. Ich bring es dann wieder zurück.“

Und so machen sie es. Mit viel Spaß radeln sie auf die Bahnhofstraße, links in die Ludwig-Jahn-Straße hinein, direkt auf die moderne Fassade der Damino GmbH zu in die Waltersdorfer Straße, an einem zweigeschossigen Gewerbebau in moderner, aber schlichter Holzarchitektur vorbei bis zu einem ockerfarbenen Gebäudekomplex mit einem markanten Fabrikschornstein im historisierenden Architekturstil der Gründerzeit, der alten Oberlausitzer Webschule. Hier soll Lotte die nächsten zwölf Monate wohnen.

„Hast du Lust auf ein Pivo in einer kleinen tschechischen Kneipe. Ich hole dich in einer Stunde mit einem SCHÖNI hier ab, “ sagt Hannah noch und wendet mühevoll das Tandem.

Mit dem leeren Gefühl der Neuankommenden im Bauch geht sie mit ihrem Rolli auf den Eingang zu.

Zwei Stunden später – es hat doch etwas länger gedauert – sitzt sie zwischen Hannah und anderen in einem niedrigen holzvertäfelten Schankraum auf einer mit Blumenmotiven bemalten grünen Eckbank. Das tschechische Kozel-Bier schmeckt köstlich. Die klare Knoblauchsuppe ist gewöhnungsbedürftig. Sie waren mit einem der selbsfahrenden Mini-Busse die lange Straße durch Walterdorf, vorbei an unzähligen alten Umgebindehäusern hinauf zur Rübezahlbaude gefahren. Von dort ging es noch 20 min zu Fuß auf einem schnurgeraden Weg durch den Wald bis zur urigen Lužická Bouda, der Lausitzer Baude. Zur Runde gehören noch Lisa, vom Netzwerk Smart Fabrics, Daniel vom Naturparkverein und Herr Krautz. Er hatte von seinem Großvater und Vater die Technik der alten Webstühle gelernt.

„Und haben Sie sich schon eingerichtet?“ fragt Herr Krautz

„Ja, die Alte Webschule ist ein wunderbarer Ort.“

„Für uns ist es tatsächlich eine Art Scharnier. Die Verbindung zwischen alter Webtradition und moderner Technologie, zwischen den Textilunternehmen, zwischen Handwerk und Kreativität und nicht zuletzt zwischen den Orten Großschönau und Waltersdorf. Jeder, der durch Großschönau fährt, kommt irgendwann an der Webschule vorbei, “ sagt Daniel stolz.

Lotte kann das bestätigen. Die Webschule war umgeben von modernen Büro und Produktionsgebäuden, eingebettet in einen Park. Ihre Wohnung lag im Dachgeschoss mit Blick auf die Lausche. Unten gab es zwei weitere Wohnungen, Ateliers,, Büros, Schulungsräume, Besprechungszimmer, eine Cafeteria, daneben eine offene Halle mit Schreibtischen, durch Paravents und Pflanzen separiert, Sofas und Sessel. Einige Wenige arbeiteten noch, unterhielten sich oder chillten mit Musik. In der nächsten, größeren Halle standen Werkbänke, Computer ein nachgebauter Frisörsalon. Schulwerkstatt stand in großen Buchstaben an der Wand. Einer der Jung-Unternehmer hatte ihr von der großen Textilmesse, dem Textilmarkt und Kreativ-Workshops erzählt, die jedes Frühjahr hier stattfanden.

„Unser Slogan war damals Textildorf Großschönau webt Geschichte, “ fängt Daniel an zu erzählen. „Im Szenarioprozess haben wir den Spruch um die Zukunft ergänzt. Wir wollten die Web- und Textiltradion weiterdenken und an Netzwerken und Zusammenarbeit weben. Es entstand ein regelmäßiger Unternehmerstammtisch, eine enge Zusammenarbeit der Betrieben mit den Kitas und Schulen, ein Vereinsforum, auch der Naturpark hat sich eingebracht, die beiden großen Textilunternehmen intensivierten ihre Zusammenarbeit untereinander und mit den regionalen Hochschulen.“

„Alles kristallisierte sich schließlich im Projekt „Alte Webschule, “ ergänzt Hannah.

„Ziel war es, das Gebäude neben dem Damast- und Frottiermuseum zum zweiten Zentrum des Textildorfes zu machen und auf mehrere Beine zu stellen: als Ort für kreative Textilgestaltung in Kooperation mit Burg Giebichenstein, als Ort für Innovationen in der Textilbranche …“

„… eine Art Gründerzentrum, Coworking Space sagt man wohl …“

„…. und (Arbeits)raum für junge Entwickler und Unternehmer, als Ort der Berufsorientierung für Kinder und Jugendliche und schließlich als Ort der Begegnung für alle.“

„Am Ende ist es uns gut gelungen. Großschönau ist bekannt für Damast und Frottee und für die Entwicklung intelligenter Textilien für Medizin, Pflege und Wellness. Es sind einige kleinere innovative Unternehmen dazugekommen, auch aus Tschechien. Mit Damino und Frottana bilden sie den Textilpark Großschönau, die Webschule mittendrin.“

„Wir können morgen eine Betriebsführung machen …,“ schlägt Lisa vor.

„Schon damals war es schwer Fachkräfte zu bekommen und Ausbildungsstellen zu besetzen. Zwei Dinge haben wir gemeinsam angepackt. Heute beschäftigen sich unsere Kinder in Kindergarten und Schule mit der gewerblich-industriellen Geschichte in Großschönau und erkunden die Betriebe in ihren Heimatorten. In der Schulwerkstatt können sie Handwerk ausprobieren. Es machen tatsächlich mehr zuhause ihre Berufsausbildung.“

„…. und wir haben attraktive Wohnungen auf den Markt gebracht.“

„Hast Du die Neubauten hinter dem Bahnhof gesehen?“

„Die Idee war hier, die Bedürfnisse und Wohnwünsche von Älteren und Jüngeren, vor allem Familien, zu erfüllen. Das Konzept sah den Umbau der Mehrgeschosser zu barrierefreien Wohnungen für Senioren im Erdgeschoss und größeren Wohneinheiten mit flexiblen Grundrissen in den Obergeschossen für Familien vor. In den meisten Wohnungen gibt es technische Assistenzsyteme, Sensoren die Stürze registrieren und die Herdplatte ausstellen  und so was …. oder die Überwachung und 

Steuerung von Kühlschrank, Heizung und Belüftung über Apps. Dazwischen Einfamilienhäuser und seniorenfreundliche Bungalows. Wir haben dazu eine Wohnungs-Tausch-Börse Jung für Alt, Alt für Jung aufgebaut. Und es funktioniert. Die Energieversorgung …. “

„…. die alten Häuser, die Umgebindehäuser waren natürlich auch wichtig.“

„Die Nähe zum Bahnhof, zu den Schulen und zu Betrieben war und ist ideal. Viele der Rückkehrer und Neubürger verzichten heute sogar aufs Auto. Der Car-Sharing-Park des Wohnungsunternehmens, die öffentlichen Mobi-Angebote im Ort, die neuen Schnellbuslinien und die vielfältigen Mobilitätsangebote an den Bahnhöfen in Zittau, Bautzen, Görlitz und Liberec machen es möglich.“

„Du hast Die Vereine vergessen, auch sie sind durch Zusammenarbeit stark und modern geblieben; und dass wir familienfreundlich sind. Nicht nur der Ort und die Verwaltung, auch die Betriebe ziehen mit. Vereinbarkeit von Beruf und Familie steht bei allen ganz oben. Da sind ja auch wieder die Angebote der Vereine wichtig … und Betreuung direkt vor der Haustür …“

„Mitten im Zittauer Gebirge bieten wir natürlich Lebensqualität vom Feinsten.“

„Und der Tourismus stärkt das alles zusätzlich. Denk nur an die gemeinsamen Qualitätsstandards für Ferien in Umgebindehäusern oder an das bekannte Schlager Gesangs Duo Kathrin und Peter …“

Es wird immer lauter. Alle wollen das Ihre zur Erzählung beitragen, wie sie gemeinsam an der Zukunft von Großschönau gewebt haben und noch immer weben.

Stolz auf das Erreichte und Heimatverbundenheit hört Lotte aus den Sätzen heraus.

Nur Herr Krautz hat seit der Begrüßung kein Wort mehr gesagt.

Still sitzt er zwischen Lotte und Hannah. Mit der Zeit jedoch wurden seine Augen unruhiger.

„Na, dann Prost. Wir sollten auf Waltersdorf und Großschönau, die Webkunst und den Zusammenhalt trinken, “ sagt er plötzlich in einer kurzen Gesprächspause.

„Das Bier wird sonst schal.“

Sie stoßen mit den Bierkrügen an und bestellen noch eine Runde.

„Wir beide gehen dann morgen an die Webstühle“, sagt Herr Krautz noch.

Dann reden wieder alle durcheinander.

Das leere Gefühl im Bauch ist weg. Ein Wenig fühlt sich Lotte bereits dazugehörig; der Beginn vom Gefühl, heimisch zu sein. In einem Jahr wird sie ungern nach Amsterdam zurück gehen. Da ist sie sich sicher.

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Die Literatur- bzw. Quellenangabe finden Sie zu der Zukunftsgeschichte im folgenden PDF-Dokument>>>literaturverzeichnis

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